Der Ursprung der Polyvagaltheorie
Stephen Porges, der Gründer der Polyvagaltheorie, hat diese aufgrund von anscheinend widersprüchlichen Reaktionen von Neugeborenen in den Intensivstationen im Krankenhaus entwickelt, dem sogenannten vagalen Paradox.
Die Herzfrequenzvariabilität, HFV, (englisch HRV – Heart Rate Variability) gibt einen indirekten Einblick in das körpereigene autonome Nervensystem. Dieses System kontrolliert und regelt die Körperfunktionen, über die wir keinen bewussten Einfluss haben, wie zum Beispiel den Herzschlag. Die HFV ist ein Maß für die Fähigkeit, sich körperlichen und mentalen Herausforderungen anzupassen und ein wichtiges Signal für das Überleben von Babys. In der Regel haben Neugeborene eine stabile HFV.
Hingegen besteht bei Frühgeburten ein häufiges Risiko der Apnoe, also des Atemstillstands und der Bradykardie, also der Verlangsamung des Herzschlages. Wie passt das zusammen?
Der Beginn
Die Polyvagaltheorie beginnt vor ca. 500 Millionen Jahren mit den ersten Reptilien wie die heutigen Krokodile, die auch als lebende Fossilien bezeichnet werden. Diese besitzen einen primitiven, nicht myelinisierten Vagus, der den Totstellreflex auslöst. Da das Gehirn von den Reptilien relativ klein ist, benötigt es auch nicht viel Sauerstoff. Daher ist dieser Abwehrmechanismus in lebensbedrohlichen Situationen eine Maßnahme, die das eigene Leben retten kann.
Ohnmacht aus Angst ist auch eine vagale Reaktion, wie totstellen als Reflex. Angst ist nicht sympathisch reguliert.
Das autonome Nervensystem hat sich in der Evolution verändert. Es ist ein neuer Vaguskreislauf entstanden, der myelinisiert ist. Myelinisierte Nerven sind mit einer Markscheide umgeben. Dadurch können die Informationen/elektrischen Signale besonders schnell transportiert werden. Dieser Vagusanteil hilft die motorischen Phasen für Kampf und Flucht sehr schnell und effizient zu starten. Stress wird reguliert durch Adrenalin und Cortisol. Diese unterstützen die Wachsamkeit und Mobilisation, sprich Kampf oder Flucht. Es gibt also einen myelinisierten vagalen Zweig zu den Organen über dem Zwerchfell und einen nicht myelinisierten für die Organe unterhalb des Zwerchfells. Ersterer ist verbunden mit dem Hirnstamm.
Säugetiere
Die Reptilien waren die dominante Spezies. Säugetiere waren ihr Essen. Die ersten Säugetiere waren gerade mal so groß wie ein Daumen. Wie konnten sie also überleben und sich vermehren?
Säugetiere haben sich von den Reptilien wie den Krokodilen weiterentwickelt. Ein Teil des Vagus ist in den Hirnstamm gewandert, der auch die Stimme und den Gesichtsausdruck mit reguliert. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Vokalisation in bestimmten Frequenzen. Im Kehlkopf gibt es einen vagalen Nerv, der die Prosodie, also die Qualität der Stimme, ob sie tief oder hoch ist, beeinflusst. Sie wird als ein entscheidendes Signal wahrgenommen, zum Beispiel wird bei Gefahr die Stimmlage in der Angst sehr hoch. Wir stellen Information über unseren physiologischen Zustand und unsere aktuelle Verfassung über unsere Stimme zur Verfügung. So können wir oft schon am Klang der Stimme eines Freundes erkennen, dass ihn etwas belastet, etwas nicht stimmt. Unser Körper reagiert, wenn die Frequenz nicht modelliert wird in einer bestimmten Weise.
Vokalisation entstand lange vor der Sprache. Der Körper reagiert auf die Intonation der Stimme, nicht auf die Worte, die wir sagen. Damit Säugetiere überleben konnten, mussten sie einander signalisieren können, ob Gefahr besteht oder eine freundschaftliche Begegnung erwartet wird. Der myelinisierte Säugetiervagus befähigt uns zur sozialen Kommunikation. So erlauben unsere Gesichtsmuskeln soziale Interaktion mittels unserer Gesichtsausdrücke und unterstützen so Wachstum und Gesundheit.
Dreistufiges hierarchisches System
Die Evolution ist unser organisierendes Prinzip, das uns hilft unsere neuronale Regulation von dem autonomen Nervensystem zu verstehen. Es ist ein dreistufiges hierarchisches System, das uns zu sozialen Verhalten befähigt. Zuerst greifen wir auf die neuesten Kreisläufe zu, wenn diese nicht helfen, greifen wir auf das in der Entwicklungsgeschichte Folgende zurück.
In einer sicheren Umgebung wollen wir ruhig sein, dabei helfen die Gesichtsausdrücke und die Stimme. In einer gefährlichen Situation mobilisieren wir für Kampf oder Flucht, in lebensbedrohlichen wollen wir verschwinden, also erstarren und totstellen. Spricht man mit traumatisierten Menschen, äußern diese sich häufig so: „Ich wollte einfach nicht da sein, ich wollte verschwinden.“
Neurozeption
Der Prozess, wie wir uns zwischen diesen drei Kreislaufen hin und her bewegen, wird Neurozeption genannt. Neurozeption ist nicht Wahrnehmung. Wahrnehmung beinhaltet eine bewusste Komponente. Unser Nervensystem evaluiert außerhalb des Bewusstseins und es entscheidet sich, schätzt ein, ob die Umgebung sicher, gefährlich oder lebensbedrohlich ist und wählt ein entsprechendes Verhalten.
So kann es passieren, dass wir reagieren und wissen nicht worauf. Es kann zum Beispiel Situationen geben wie zu viel Sport gemacht, zu wenig geschlafen, zu viel Kaffee getrunken, die uns in einen körperlichen Zustand bringen, als ob eine Bedrohung bestünde. Wir sind uns dessen nicht bewusst und denken, dass es schon einen Grund geben wird, dass ich wütend oder feindselig bin. So wird unser Verhalten von unserem unbewussten Körperempfinden beeinflusst.
Neugeborene
Die zwei unterschiedlichen Vagusreaktionen waren bei den Neugeboren beobachtbar. Während des letzten Trimesters hat sich der Teil des Gehirns, der den Vagus reguliert, örtlich verändert. In den letzten 10 Wochen der Schwangerschaft wurden sie assoziiert mit dem Gesicht. Ein frühgeborenes Baby ist nicht wie ein Erwachsener oder ein vollentwickeltes Neugeborenes. Es ist im Übergang und entwickelt ein säugetierartiges autonomes Nervensystem und dieser Übergang ist noch nicht vollzogen, wenn es auf die Welt kommt. So reagieren Frühgeborene bei Gefahr oft wie ein Reptil mit Totstellen, also mit Bradykardie und Atemstillstand. Das sind genau die Abwehrmechanismen von Reptilien.
Nicht alle vagalen Pfade fördern soziale Kommunikation, regulieren Stress regulieren und fördern Resilienz. Es existieren auch vagale Pfade, die als Abwehrmechanismen lebensbedrohlich sein können.